SWR2 Wort zum Sonntag

Wie alle Kinder, die Geschwister haben, habe ich schnell begriffen. Am besten ist es, man hält sich an die Regel: Wie du mir, so ich dir. Wer – wie es unter Kindern üblich ist - zurück bekommt, was er oder sie anderen an Quälereien zufügt, begreift rasch: Das tut weh.

Wie du mir, so ich dir: Diesen Gedanken kennt auch die Bibel. Gleiches wird mit Gleichem vergolten. Und das ist zunächst einmal gut so. Das war viel besser, als es vorher war. Davor galt der Satz: Wie du mir, so ich dir erst recht und noch viel mehr! Ein Satz, der in Gesellschaften, in denen die Blutrache geübt wird, immer noch gilt. Erst mit dem Gedanken: Gleiches ist nur mit Gleichem zu vergelten, nicht mit noch höheren Strafen, heftigeren Reaktionen oder schlimmeren Taten, zog ein Rechtsgrundsatz in das Denken der Gesellschaft ein: Der Grundsatz der Vergleichbarkeit von Taten.

Konkret wird so in der biblischen Rechtssprechung der Schadensersatz geregelt. In dem viel zitierten Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (2. Mose 21,24 und folgende talmudische Rechtsauslegung) wird das deutlich. Ein Schaden, den jemand an seinem Besitz oder an seinem Körper erlitten hat, ist so zu regeln, dass man nicht mehr Ausgleich fordert als an Schaden tatsächlich war. Gleiches wird mit Gleichem vergolten, danach ist der Fall abgeschlossen und erledigt. Dieser Rechtsgrundsatz bedeutet: nicht mehr, nicht schärfer, nicht aggressiver, nicht noch eins draufsetzen - keine Eskalation.

Wie oft aber kommt es vor, dass Leute ganz empört darüber sind: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ gilt vielen als boshafter und ungerechter, unversöhnlicher und rachsüchtiger Gedanke, und ganz gewiss nicht als Rechtsgrundsatz. Ich gebe zu: Schön finde ich das auch nicht, die Vorstellung, dass Recht und Gesetz sein soll, wenn nur mit gleicher Münze - und nicht mehr - heimgezahlt wird, was man einem anderen angetan hat. Aber ehrlich, ich finde es meistens ein bisschen scheinheilig, wenn dieser Satz in der Absicht zitiert wird, andere der boshaften und ungerechten Rachsucht zu bezichtigen. Dass Menschen Gleiches mit Gleichem vergelten, das kann man zuallererst an sich selbst beobachten und muss nicht bei anderen damit anfangen. Denn oft genug verhalten wir uns selbst genau nach diesem Grundsatz: Wie du mir, so ich dir. Das klingt netter. Aber es meint genau dasselbe.

Auch Jesus zitiert den Satz in der Bergpredigt: „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, also „Gleiches um Gleiches“ und - weist ihn zurück. Jesus sagt: Man soll nicht nur darauf verzichten, dass einem Gleiches mit Gleichem vergolten wird, sondern man soll auch noch die andere Wange hinhalten. (Mt. 5,38ff). Man soll dem, der einen angreift und der einem Böses will, mit offenem Visier begegnen, ohne zurückschlagen zu wollen.

Was für eine Botschaft! Ich frage mich: Kann man es mit der Güte nicht auch übertreiben? Zugleich leuchtet mir der Gedanke Jesu ein: Nur so lässt sich ein Kreislauf oder gar eine Spirale von Bösem durchbrechen: indem man auch auf das verzichtet, was schon die erste Stufe der De-Eskalation war: Gleiches um Gleiches.

Aber wirklich: Wie soll das gehen? Es ist ein völlig weltfremder Gedanke. Und mir ist klar, dass nur wenige den Anspruch erheben können, so auch wirklich zu leben. Aber deshalb will ich die Botschaft Jesu doch nicht handlicher und passender für mich und meine begrenzten Möglichkeiten machen! Sondern sie so hören, dass sie wie ein Licht ist, auf das ich zugehen kann, wie ein Klang, der mich in seinen Bann zieht.

Ich höre: Mach es nicht wie alle, folge nicht der Grundregel des „Wie-du-mir-so-ich-dir-Denkens“. Sag nicht von vornherein: Das geht nicht. Zwing Gottes Güte nicht in deine Maßstäbe. Beuge nicht die Größe der Liebe unter deine Schwachheit. Orientiere dich an der Güte, der Vergebung, der Großherzigkeit wie an etwas, das deinen Blick hebt!

Wo Menschen in der Nachfolge Jesu so leben, tragen sie dazu bei, dass die Welt ein bisschen heiler und heller wird. Katholische Christen begehen heute den Gedenktag „Allerheiligen“. Ich finde es schön, dass an diesem Tag nicht nur der Heiligen gedacht wird, die im Heiligenkalender genannt sind und von denen man erwarten darf, dass sie nach Jesu Vorbild lebten. Sondern an Allerheiligen wird auch der vielen Heiligen gedacht, um deren Heiligkeit niemand weiß als Gott allein. Zum Beispiel derer, die dem Ruf in die Güte Gottes folgen und nicht dem „Wie-du-mir-so-ich-dir“-Denken. https://www.kirche-im-swr.de/?m=7046
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