SWR Kultur Lied zum Sonntag

29SEP2024
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Heute ist der „Tag des Erzengels Michael und aller Engel“. Es ist ein komischer Feiertag, denn wie schade für Michael, dass er seinen Namenstag mit allen anderen Engeln teilen muss. Und wie bedauerlich erst für die große Zahl an Engeln, von denen es anscheinend so viele gibt, dass nicht jeder mit einem eigenen Gedenktag gewürdigt werden kann. Einem dieser namenlosen Engel hat der Dichter Hugo Ball zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Trost wenigstens ein kleines Gedicht gewidmet. Und der zeitgenössische Komponist Peter Schindler hat es in Töne gesetzt. Es heißt Morgenengel:

Früh, eh der Tag seine Schwingen noch regt,
alles noch schlummert und träumet und ruht,
Blümchen noch nickt in der Winde Hut,
eh noch im Forste ein Vogel anschlägt,
schreitet ein Engel durchs tauweiße Land,
streut aus den Segen mit schimmernder Hand.

Dieser Morgenengel bleibt nicht nur ohne Namen, er wirkt auch im Verborgenen. Die Morgendämmerung ist seine Zeit, früh, eh der Tag seine Schwingen noch regt. Noch nicht einmal ein Vogel ist wach, der doch lange schon vor irgendeiner menschlichen Seele das Licht eines neuen Tages heraufziehen spürt. Ein Engel schreitet durchs tauweiße Land, womöglich barfuß, aber das stört ihn nicht, denn er widmet sich mit Hingabe seiner Aufgabe: „Streut aus den Segen mit schimmernder Hand.“ Als hätte die Welt den ganzen Segen vom gestrigen Tag schon wieder aufgebraucht und müsste nun auf’s Neue damit überschüttet werden. Und dann erwacht die Schöpfung aus ihrem Schlummer:

Und es erwachet die Au und der Wald.
Blumen bunt reiben die Äuglein sich klar,
staunen und flüstern in seliger Schar.
Aufstrahlt die Sonne, ein Amselruf schallt.
Aber der Engel zog längst schon landaus.
Flog wieder heim in sein Vaterhaus.

Kein Mensch betritt die Szenerie dieses Gedichts. Nur die Vögel sind schon da, und die Au und der Wald und die Blumen regen sich im ersten Sonnenlicht. Aber auch sie sind dem Morgenengel nicht begegnet. Ehe ein Geschöpf ihn bemerken kann, ist er schon wieder weitergezogen. Was für eine schöne Vorstellung, dass die Welt ganz ohne mein Zutun jeden Morgen neu gesegnet wird. Von Engeln, die sich dafür zwischen Tau und Tag an die Arbeit machen. Mit schimmernden Händen Segen ausstreun, damit ich morgens in einer gesegneten Welt aufwachen kann.

Musikangaben:
Text: Hugo Ball (1868-1927)
Komposition: Peter Schindler (geb. 1960), Nr. 2 aus dem Zyklus „Engel-Lieder“ (2019)
Aufnahme: Anja Petersen (Sopran) und Peter Schindler (Piano) (31.01.2021), Youtube

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