Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

28SEP2024
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Ausgerechnet Mose heißt der gigantische mobile Deich, der die Stadt Venedig regelmäßig vor Überflutungen schützt. Mose, wie der Mann aus der Bibel. Seit vier Jahren ist er in Betrieb und seither schon 84-mal zum Einsatz gekommen. Bei Hochwassergefahr werden seine 78 leuchtend gelben Fluttore vom Meeresboden auf 30 Meter Höhe hochgeklappt und riegeln so die Lagunenstadt auf einer Länge von knapp 2 km vom offenen Meer ab.

Ich wusste gar nicht, dass es diese Vorrichtung überhaupt gibt, und war begeistert, als ich neulich davon gelesen habe. Und auch der biblische Namensgeber hätte wohl seine helle Freude an dem technischen Wunderwerk gehabt. Zwar ist der venezianische Mose nur die Abkürzung von „Modulo Sperimentale Elettromeccanico“, was auf Deutsch - und reichlich untertreiben - so viel heißt wie ein „elektromechanisches Versuchsmodul“, aber es besteht kein Zweifel, dass Mose zwei mit immensem technischem Aufwand genau das zuwege bringt, was Mose eins einst allein durch das Heben seines Armes bewirkt haben soll: Er hat, so steht es in der Bibel, das Meer geteilt. Hat dafür gesorgt, dass eine Gruppe von Menschen aus sklavischen Verhältnissen im alten Ägypten entkommen konnte. Buchstäblich in letzter Sekunde, bevor die Streitkräfte des Pharaos die Flüchtigen eingeholt hatten, hat Mose die Fluten geteilt.

Die Israeliten gelangen sicher ans rettende Ufer; die Verfolger kommen um, als die unsichtbaren Dämme kurz darauf brechen und das Wasser zurückkommt. Und ganz egal, was sich damals tatsächlich abgespielt hat, diese Geschichte ist für Generationen von Menschen zur Urerfahrung von möglicher Rettung aus höchster Not geworden. Und ein neuer Mose tut nun dasselbe für die Venezianer. Ihre Stadt sinkt jährlich um drei bis vier Millimeter ab. Und draußen steigen die Meeresspiegel. Aber Mose hält das Unheil fern. Er ist für mich ein wuchtiges Beispiel für den zwar nicht von Mose, aber von Hölderlin überlieferten Satz: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“

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