SWR Kultur Wort zum Tag

26JUL2024
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„Die Tiere bekommen als erste ihr Futter“ hat mir meine Großmutter erklärt. Dabei hat sie ihren Kanarienvögeln einen Schnitz Apfel in den Käfig geschoben und Körner und Wasser in Schälchen gefüllt. Ich war etwa fünf Jahre alt und fand diesen Satz im besten Sinne des Wortes merk-würdig. Ich habe ihn mir bis heute gemerkt, obwohl ich selbst nie ein Tier besessen habe. Für mich steht der Satz meiner Großmutter stellvertretend für eine Haltung, die die eigene Person zurücktreten lässt gegenüber anderen, die bedürftig sind. Eben nicht „Me first“, sondern zuerst die Schwächeren, die, die sich nicht selbst helfen können. Sogar ich, das von ihr über alles geliebte Enkelkind, musste mit dem Frühstück warten, bis die Kanarienvögel versorgt waren. Dann erst bekam ich mein Müsli. Meine Großmutter hat ihren Satz übrigens ganz entschieden vorgebracht. Da gab es keine Diskussionen. Die Tiere kommen zuerst dran. So ist es eben. Ich habe damals nicht nur gelernt, dass – jedenfalls für meine Großmutter – die Kanarienvögel am Morgen Vorrang vor den Menschen haben, sondern auch, dass man nicht verhungert, wenn man mal auf das Essen wartet. Im Gegenteil schmeckt das Frühstück sogar viel besser, wenn man vorher einem kleinen Geschöpf das Lebensnotwendige gegeben hat.

Was das Verhungern betrifft: Meine Großmutter hat im Krieg noch selbst gehungert. Noch schlimmer war für sie, dass sie ihr Kind – meinen Vater - nicht jeden Tag satt bekommen hat. Diese Erfahrung hätte ja auch dazu führen können, sich in späteren, guten Zeiten, den Teller randvoll zu häufen, ohne an andere zu denken. Und zwar als erste Tat am Morgen. Doch meine Großmutter hat Haltung bewiesen. Im Krieg und danach. Krieg und Hunger können dazu führen, dass Menschen sich ent-menschlichen. Dass sie ihre Werte verlieren, und ihre Einstellung zum Leben. Meine Großmutter hat das nicht zugelassen. Für sich nicht – und nicht für ihre Familie. Die christlichen Werte, die sie einmal gelernt hatte – Nächstenliebe, Barmherzigkeit, das Eintreten für Gottes Geschöpfe – die hat sie auch in der Not nicht vergessen und dies an ihren Sohn weitergegeben, auch zu Zeiten, als sie ihm zu ihrem Schmerz nicht ausreichend Brot geben konnte. Und später, in besseren Zeiten, an mich, ihr Enkelkind. Und mir den Teller mit einem jedenfalls immer ganz randvoll gefüllt: mit sehr, sehr viel Liebe.

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