SWR Kultur Wort zum Tag

25JUL2024
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„Man muss den Kindern zeigen, dass sie etwas können“ hatte er mir erklärt. Ich kann mich nach all den Jahren noch genau erinnern. Wir hatten mit der Gymnasialklasse eine Exkursion zu einer Klosterruine unternommen. Er war am selben Tag mit seiner Hauptschulklasse dabei, im Kloster eine archäologische Ausgrabung durchzuführen. Er stand in der Grube mit der Schaufel in der Hand und hat mir erklärt, warum diese Aktion für seine Klasse so wichtig sei. Seine Schülerinnen und Schüler waren währenddessen mit Feuereifer dabei, kleine Scherben auszubuddeln und sorgfältig mit Pinseln vom Staub zu befreien. Warum er ausgerechnet mir sein pädagogisches Konzept erläutert hat, weiß ich heute nicht mehr. Wahrscheinlich habe ich neugierig gefragt, ob ich nicht auch mitmachen dürfte. Doch diese archäologische Ausgrabung war nicht für mich Gymnasiastin gedacht, sondern exklusiv für seine Klasse. „Die Kinder haben nicht viele Erfolgserlebnisse, das ist für dich viel einfacher“ hat er mir erklärt. „Hier erleben sie, dass sie etwas können. Das ist wichtig. Denn sie sind wertvolle Menschen, in ihnen steckt viel. Man muss ihnen nur helfen, das zu entdecken.“ Ich weiß noch: Ich hätte gerne auch mitgemacht, vor allem hätte ich aber gerne ihn als Lehrer gehabt. Ich habe gespürt: Dieser Mann ist etwas ganz Besonderes. Von ihm könnte ich viel lernen. Über das Leben. Über mich. Über Güte. Seine Worte, seine Haltung haben sich mir tief eingeprägt.

Später habe ich in meinem Beruf mit Kindern aus vielen gesellschaftlichen Milieus zu tun gehabt. „Man muss den Kindern zeigen, dass sie etwas können.“ Was ich als Schülerin gehört habe, wurde zum Anspruch an mich als Pfarrerin. Mein Augenmerk hat deshalb auch denen gegolten, die es im Leben nicht so einfach hatten. Denen, die ein bisschen länger gebraucht haben, bis sie etwas verstanden haben. Denen, die um alles kämpfen mussten, auch um Erfolg und Anerkennung. Ich habe überlegt, wie ich die Konfirmandenstunde so gestalten könnte, dass alle Freude daran haben. Wir haben dann mit einem Spiel begonnen, an dem sich alle beteiligen konnten. Und immer wieder habe ich an diesen Lehrer gedacht. An seine menschenfreundliche Güte. Schade, dachte ich, dass er nie erfahren wird, wie nachhaltig bedeutsam sein Impuls gewesen ist. Neulich, als ich meine Mutter im Altersheim besuchte, habe ich plötzlich seinen Namen gehört. Ein alter Herr hat seine pflegebedürftige Frau besucht. Ich habe ihn angesprochen. Tatsächlich, der Lehrer! Und so konnte ich ihm, Jahrzehnte später, erzählen, wie wichtig er für mich geworden ist. Er hat sich, ganz bescheiden, gefreut. Und ich konnte endlich „Danke“ sagen.

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