SWR1 Anstöße sonn- und feiertags

16JUN2024
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Die Schrift auf den Verpackungen wird auch immer kleiner, habe ich in letzter Zeit öfter gedacht – und beim Kochen in der Küche das Licht eingeschaltet und den Kopf verdreht, um die winzigen Buchstaben entziffern zu können. Meine Kinder haben mich beobachtet und nur gegrinst: Du brauchst halt eine Lesebrille!

Echt jetzt? Im Drogeriemarkt habe ich mich unauffällig an den Brillenständer herangeschlichen und mal so eine Lesebrille ausprobiert. Wow! Wie einfach man damit alles erkennen kann. Eine ganz neue Sicht auf manche Dinge.

Das Erlebnis mit der Lesebrille hat mich nachdenklich gemacht. Es gibt vermutlich auch sonst in meinem Leben einiges, dass ich nicht deutlich fokussiere, sondern nur verschwommen wahrnehme wie die kleinen Buchstaben: Manchmal sehe ich zum Bespiel nicht klar, dass mein Körper signalisiert: Mach mal eine Pause. Oder ich nehme gar nicht richtig wahr, wie es eigentlich der Nachbarin geht, die ich ab und zu im Vorbeigehen grüße. Ja, es gäbe vieles, was wichtig wäre zu sehen – und es ist wie mit der Altersweitsichtigkeit: Mir fehlt die richtige Brille dafür – aber ich habe mich daran gewöhnt und merke es gar richtig.

Die Sache mit der richtigen Brille hat übrigens auch den Reformator Johannes Calvin beschäftigt, der im 16. Jahrhundert in Genf gelebt hat. Calvin meint, die Bibel, die Heilige Schrift, ist so etwas wie eine Brille, mit der man Gott und die Welt genau erkennen kann.

Sinngemäß sagt er: Wenn jemand schlecht sieht, kann man ihm ein Buch so lange vor die Nase halten, wie man will. Er merkt zwar, dass da etwas geschrieben steht, kann aber kaum etwas erkennen. Mit einer Brille dagegen kann er mühelos alles lesen und verstehen. Und so wie eine Brille Klarheit in die Buchstaben bringt, so bringt die Heilige Schrift, schreibt Calvin, unser sonst so verworrenes Wissen um Gott in die richtige Ordnung.

Mir leuchtet das ein. Geschichten aus der Bibel helfen mir, an manchen Punkten in meinem Leben genauer hinzusehen. Wenn ich in der Bibel lese, dass ich wunderbar geschaffen bin und mein Leben ein Geschenk von Gott ist – dann verändert das meinen Blick auf mich selbst. Ich schaue mich selbst freundlicher an – und versuche, besser auf mich achtzugeben. Und wenn ich die Geschichte vom Barmherzigen Samariter höre, der als einziger einem Schwerverletzten geholfen hat, obwohl der eigentlich sein Feind war – dann überlege ich, wie ich’s damit halten würde. Und bei wem ich bereit bin zu helfen.

Ja, die Bibel kann wie eine Brille sein, die hilft, scharf zu sehen – Gott, die Welt und mich selbst.

Fürs Lesen habe ich mir übrigens inzwischen eine Lesebrille angeschafft. Nicht immer setze ich sie auch auf. Aber sie erinnert mich daran, immer mal wieder zu prüfen, was ich gerade so wahrnehme im Leben. Ob ich scharf sehe. Und durch welche Brille ich die Welt betrachte.

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