SWR4 Abendgedanken

28JUN2024
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Vor wenigen Wochen ist eine langjährige Wegbegleiterin von mir verstorben. 95 Jahre alt ist sie geworden. Was für ein gesegnetes Alter! Ich hatte sie als Schülerin in der Kirche kennengelernt. Auch nach ihrem Ruhestand und meinem Umzug von der Nordsee nach Süddeutschland sind wir durch die Jahrzehnte in Kontakt geblieben. Wenn wir telefoniert haben, hat sie erst einmal zugehört und dann einfach ein paar Fragen gestellt. Sie war keine Frau fürs oberflächliche, ihr ging es um das Wesentliche, um das, was einen im Herzen umtreibt. Sie hat sich mit ihrer Meinung und ihrem Wissen nicht aufgedrängt, ihr ist es darum gegangen, dass ihr Gegenüber eigene Antworten findet.

Nun fehlt sie mir mit ihrer großen Lebenserfahrung als Ratgeberin. Manche Gedanken von ihr sitzen jedoch tief in mir. „Weißt du, manchmal lohnt es sich gar nicht, sich aufzuregen. Der neue Nachbar mit anderen Vorstellungen, die unfreundliche Verkäuferin, Stress auf der Arbeit? Das legt sich alles von selbst. Bleib einfach freundlich, wenn man dir unfreundlich kommt. Fertig.“

Als Jugendliche schien mir diese Haltung ein wenig schräg, Unfreundlichkeit mit Freundlichkeit zu begegnen, aber sie hat recht. Energie und Einsatz braucht es an anderer Stelle, das war für meine Bekannte klar. Als junges Mädchen hatte sie erlebt, wie ihre jüdischen Freundinnen von einem auf den anderen Tag in Königsberg verschwunden waren, später auf der Flucht hat sie Dinge gesehen, die brutal waren. Den Schmerz darüber hat sie bis ins hohe Alter im Herzen bei sich getragen.

„Du musst, wenn Du Dich ärgerst, genau unterscheiden, ob etwas im Grunde albern ist und vorübergeht oder ob eine Grenze überschritten wird, die nicht überschritten werden darf. Frag dich das jedes Mal ganz genau!“ Antisemitismus und Machtgehabe waren für sie solche Grenzen. Wenn die überschritten wurden, war es ihr egal, wer vor ihr stand, auch als sie die 90 schon weit überschritten hatte. Da wurde Klartext gesprochen. „Weißt du, in der Bibel heißt es: ‚Behüte dein Herz mit allem Fleiß, denn aus ihm fließt das Leben‘ – das ist wichtig. Habe dein Herz bei allem, was Du tust, im Blick. Sei klar, was dir wichtig ist und was nicht.“ Ihr Herz hat nun aufgehört zu schlagen, aber, das spüre ich nun ganz genau, mein Herz schlägt weiter für das, was ihr in ihrem langen Leben wichtig geworden war.

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