SWR Kultur Wort zum Tag

15JUN2024
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Wie leben wir mit nicht erreichten Zielen? Mit dem Unerfüllten im Leben?
Wenn ich in Tübingen über die Neckarbrücke gehe und mein Blick auf den runden gelben „Hölderlinturm“ fällt, kommt mir manchmal ein Gedicht von Friedrich Hölderlin in den Sinn. Er hat es dort – schwach und erschöpft vom Leben –  auf ein Stück Holz geschrieben: 

Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind, und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.

Hölderlin hat 36 Jahre lang da in einem kleinen Turmzimmer gelebt. Er hat deutlich gespürt, wie sein Leben gelinde gesagt „unerfüllt“ geblieben ist. Ein Erfolg im Beruf war ihm verwehrt. Weder als Wissenschaftler noch als Dichter fand er zu seinen Lebzeiten groß Anerkennung. Der Verlust seiner großen Liebe „Susette Gontard“ hat ihn an den Rand der Verzweiflung getrieben. Enttäuscht und zerplatzt sind auch seine politischen Hoffnungen, die er als Student mit seinen Freunden hatte. Gemeinsam hatten sie gedacht, mit der Französischen Revolution bricht ein Reich der Freiheit und des Friedens an. 

Nach einer schweren seelischen Krankheit hat ihn schließlich der Schreinermeister Zimmer und seine Familie aufgenommen, in ihrem Haus am Neckar. Dort findet Hölderlin nach allen diesen Niederlagen und Verletzungen so wunderbar milde Worte für die eine Hoffnung, die weiterträgt:
Gott kann auch mein Leben einst „ergänzen“, mit allem, was auf der Strecke geblieben ist: „Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden“.

Wie verschieden sind doch „die Linien des Lebens!“ Manches gelingt, anderes bleibt auf der Strecke, bei manchem stößt man an Grenzen. Wie gehe ich damit um – mit dem Nicht-Erreichten – im Beruf, in der Familie, im öffentlichen Engagement? Mich anstrengen – auf Teufel komm raus?! „Komm, da geht noch was. Das schaffst Du schon!“. Aber kann ich das überhaupt? Und muss ich das wirklich?

Hölderlin ist mir in vielem ein Seelsorger geworden.
Seine Dichter-Worte stärken meinen Glauben und trösten mich:
Ich kann im Leben an Grenzen stoßen und Ziele nicht erreichen.
Ich kann auch scheitern. Und kann dann mit dem Unerfüllten weiterleben.
Ich kann ein Fragment bleiben – und muss nicht komplett werden. Ja, ich kann dazu stehen – ohne Verdruss, ohne Selbstvorwürfe. Mit der Hoffnung: Gott wird einst ein Ganzes daraus machen, die unvollendet gebliebenen Linien weiterziehen.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40077
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