SWR Kultur Wort zum Tag

06JUN2024
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„Dass es uns an Glaube fehle, kann man nicht sagen. Allein die einfache Tatsache unseres Lebens ist in ihrem Glaubenswert gar nicht auszuschöpfen.“ Diese These stammt von Franz Kafka, dem vielleicht klarsten und abgründigsten Schriftsteller deutscher Sprache. Ein erstaunlicher Satz, denn öfter ist ja das Gegenteil zu hören: „ich glaub nix, mir fehlt nix“. Dass es da gar einen Überschuss an Glauben geben soll, ist wirklich eine kühne Aussage. Vor drei Tagen war Kafkas 100.Todestag.  Als er vom unerschöpflichen Glaubenswert des Lebens schrieb, hatte er schon den Befund Tuberkulose zu verkraften, damals meist tödlich und dann auch für ihn. Und trotzdem diese kühne Notiz: Glaube ist genug da, schier unerschöpflich. „Man kann doch nicht nicht-leben.“

Klar ist sofort: Kafka meint hier nicht religiösen Glauben oder gar den kirchlichen. Natürlich schwingt seine jüdische Prägung mit. Aber vor allem ist es eine ganz alltägliche Erfahrung, auch heutzutage.  Ohne Vertrauen kein Leben, ohne Vertrauensvorschuss keine Initiative und letztlich kein Schritt vor die Tür und kein Atemzug. Wir könnten auch von Urvertrauen sprechen, von Lebensglauben. „Es wird schon werden“. „Man muss auch mit dem Guten rechnen“. „Es wird schon nicht so schlimm“.  Wie auch immer die alltäglichen Trost-Sprüche heißen – sie alle laufen auf Ermutigung hinaus. „Man kann doch nicht nicht-leben“.   Selbst wenn man sich tragischerweise das Leben nehmen wollte, müsste man sich immer noch aktiv dazu entscheiden.

Eigentlich gibt es nur eine einzige Existenz-Frage, meinte später der Kafka-Leser Albert Camus: „Warum bleiben Sie am Leben?“ Eben, weil darin dieser Glaube steckt, dieser unbändige Lebenswille, dieses Tiefenwissen um den Schatz des Daseins. Leben heißt, darauf vertrauen, dass es gut ausgeht. Dass ich heute Morgen aufgewacht und aufgestanden bin, ist ja keineswegs selbstverständlich.  In jeder Handlung steckt ein Glaubensakt. Mit jedem Atemzug mache ich Gebrauch von einer Zusage und erwidere sie, mag die Luft auch noch so knapp werden. Kafka hat Recht: wir Menschen sind gläubiger als wir denken. Und das hat guten Grund. Religiöse Menschen nennen ihn Gott.

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