SWR Kultur Wort zum Tag

„Gleicher Lohn für alle!“ Diese Forderung wird in Deutschland schon seit Jahrzehnten erhoben. Auch heute, am traditionellen Tag der Arbeit, könnte sie wieder laut werden. Noch immer verdienen Frauen in vielen Bereichen für dieselbe Arbeit deutlich weniger als Männer. Wer sich über dieses geschlechtsspezifische Lohngefälle aufregt, hat noch nicht gehört, was für eine Aufregung das durchgezogene Prinzip „Gleicher Lohn für alle“ in einer biblischen Geschichte aus dem Neuen Testament verursacht.

Da erzählt Jesus einmal von einem Weinbergbesitzer, der in der Erntezeit Saisonarbeiter anheuert. Früh am Morgen nimmt er etliche unter Vertrag und sichert ihnen, sagen wir den derzeit gültigen Mindestlohn von 12,41 € in der Stunde zu. Im Tagesverlauf nimmt er noch mehrmals weitere Zeitarbeiter unter Vertrag, allerdings ohne mit ihnen eine Bezahlung zu vereinbaren. Sie sind wohl froh, dass sie überhaupt Aussicht auf ein paar Groschen haben. Am Abend zahlt der Weinbergbesitzer den Tageslohn bar aus. Jeder Arbeiter bekommt, und zwar unabhängig von der Zahl der Stunden, die er gearbeitet hat, exakt 124,10 €. Da kommt es zu lautstarken Protesten unter denen, die von morgens bis abends geschuftet haben. Sie fühlen sich betrogen, ungerecht behandelt. Der Arbeitgeber lässt sich aber nicht beirren und sagt ganz ruhig: Ihr habt bekommen, was vereinbart war. Warum seid ihr jetzt also unzufrieden?  Weil ich so gütig bin?

Bist du unzufrieden, wenn es gütig statt gerecht zugeht? Diese wunderbar entlarvende Frage aus dem Gleichnis möchte ich gerne mitnehmen in diesen neuen Monat und sie mir immer dann stellen, wenn der Neid an mir nagt, wenn mein Gerechtigkeitsempfinden verletzt wird, wenn ich bemerke, dass der Blick, mit dem ich am Morgen in die Welt blicke, scheel wird, missgünstig, empört. Ich nehme mir vor, den Silbergroschen, den ich in der Tasche habe, zu spüren wie einen Schatz, und mich nicht zu ärgern an den prall gefüllten Taschen der anderen.

In Wilhelm Hauffs Märchen „Das kalte Herz“ wünscht sich der Held, als er einen Wunsch frei hat, immer so viel Geld in der Tasche zu haben wie einer, den er schon immer um seinen Reichtum beneidet hat. Das geht auch eine ganze Zeit lang gut. Bis der Bewunderte schließlich beim Kartenspiel alles auf eine Karte setzt, verliert und den Helden mit seinem unbedachten Wunsch ins Elend reißt. Hätte er mal nicht so missgünstig dreingeschaut, nicht geschielt auf das vermeintliche Glück der anderen, sondern wäre er bei sich geblieben.

Bist du unzufrieden, wenn es gütig statt gerecht zugeht? Ich spinne die Frage weiter: Wie wäre es wohl, wenn keiner sich mehr aufregen würde, zu kurz gekommen zu sein. Wenn alle einfach zufrieden wären mit dem, was sie haben. Wenn Gnade vor Recht erginge und gar niemand was dran auszusetzen hätte. Wenn Neid und Missgunst kein Thema wären, weil die einen den andern das ihre von Herzen gönnen. Wenn die Letzten die Ersten wären. Wenn Hierarchien keine Rolle mehr spielten, weil alle im Kreis um einen großen Tisch sitzen und nicht mehr in einer langen Warteschlange vor dem Jobcenter anstehen? Wenn alle genug zum Leben hätten unabhängig davon, ob sie es verdient haben oder nicht. Wenn alle mitgenommen würden und keiner mehr auf der Strecke bliebe. Wenn alle beschäftigt wären. Wenn Gerechtigkeit und Güte keine Gegensätze mehr wären. Wenn niemand mehr auf Barmherzigkeit angewiesen wäre, weil sowieso alle auf Barmherzigkeit angewiesen sind und von derselben Güte desselben Gottes leben.

Dann, so erzählt es Jesus in diesem Gleichnis vom ungerechten, aber gütigen Weinbergbesitzer, dann wäre wohl das Himmelreich auf Erden angebrochen. So weit sind wir noch nicht an diesem 1. Mai 2024. Aber wir könnten ja mal anfangen. Vielleicht mit gleichem Lohn für Männer und für Frauen!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=39806
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