SWR4 Sonntags-/Feiertagsgedanken

„Wo man singt, da lass dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder.“ Ich glaube, diese alte Redensart spricht etwas Wichtiges an. Was könnte friedlicher, fröhlicher und besänftigender sein als Gesang? Ein Mensch, der gerne singt, mit dem ist meistens gut auszukommen. Und kaum etwas verbindet Fremde so sehr wie gemeinsames Singen!

Ich weiß natürlich auch: Es gibt richtig böse und gemeine Lieder. Es gibt Hass- und Hetzgesänge. Dennoch hat der Spruch nicht ganz unrecht. Singen ist fröhlich und macht fröhlich. Um das Singen geht es auch an diesem Sonntag. Der hat in der evangelischen Kirche nämlich einen besonderen Namen: „Kantate“. Das ist Latein. Auf Deutsch heißt es einfach: „Singt!“

Das gefällt mir. Singt mehr! So möchte ich den Leuten, denen ich begegne, gerne zurufen. Traut euch, eure Stimme singend zu erheben und das zu üben. Ja, ich weiß: Viele Menschen sagen über sich selbst, dass sie nicht singen können. Oft ist es aber nur so, dass sie es sich nie richtig getraut haben. Und dass sie es nie richtig geübt haben. Zu beidem möchte dieser Sonntag Mut machen.

Ich glaube, Musik ist ein besonderes Geschenk Gottes. Für mich ist es sogar die Sprache Gottes. Und ich glaube, Gott hat jedem Menschen eine eigene, besondere Stimme geschenkt! Darum wird in Gottesdiensten immer viel gesungen. Denn Gesang richtet einen Menschen auf und bringt ihn dem Himmel näher. Gekrümmt und zusammengesackt kann man nicht singen, das schaffen höchstens ausgebildete Opernsänger. Solches aufrechte Singen macht Mut und Hoffnung. Und singend lassen sich Mut und Hoffnung besonders gut weitergeben.

Zum Beispiel am Bett eines Kindes. „Breit aus die Flügel beide, o Jesu, meine Freude, und nimm dein Küchlein ein.“ Das habe ich als kleines Kind abends vorgesungen bekommen. Ich habe die Worte damals nicht genau begriffen. Trotzdem habe ich das Lied verstanden. Ich wusste: Ich soll beschützt sein. Ich soll ruhig schlafen können und am nächsten Morgen munter und fröhlich wieder aufwachen. Und ich habe die sanfte Stimme meiner Mutter oder meiner Großmutter mit in meinen Schlaf genommen.

Seitdem ist Singen für mich etwas, das gut tut. Etwas, das es warm und hell macht zwischen Menschen. So wie ein Gutenachtlied für ein kleines Kind.

Gesang hilft mir, dass ich hoffen kann und Zuversicht entwickele. Ja, die bösen Menschen haben wohl auch ihre Lieder. Aber gerade in Diktaturen haben Menschen immer viel gegen die grausame Herrschaft angesungen. Singen macht Mut. Und gemeinsames Singen kann sogar stärker sein als Panzer und Gewehre! Weil es die Herzen stark und weit macht, so dass die Angst keinen Platz mehr darin hat.

 

Singen macht die Angst kleiner. Jeder, der als Kind einmal im Dunklen gesungen hat, weiß das. Das Kind, das gegen seine Angst und Einsamkeit ansingt, beschwört damit alle guten Mächte. Es ruft sozusagen Gottes Engel auf den Plan und bittet sie: „Helft mir gegen die dunklen Ecken, in denen sich etwas Böses versteckt und mich bedroht! Seid bei mir und geht schützend zu meiner Seite!“

An diese Schutzengel der Kindheit hat auch Dietrich Bonhoeffer gedacht, als er in einem furchtbaren Gefängnis sein berühmtes Gedicht geschrieben hat: „Von guten Mächten wunderbar geborgen, erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“

Viele Menschen haben mir schon erzählt, wie dieses Gedicht ihnen Mut gemacht hat. „Von guten Mächten wunderbar geborgen“: Längst kann man diese Worte auch singen. Menschen singen das, wenn sie sich trostlos und ungeborgen fühlen. Das Lied macht es für sie wärmer und heller. Es richtet sie auf.

Als die Menschen in Estland, Lettland und Litauen vor 30 Jahren gegen die sowjetische Herrschaft auf die Straße gingen, da haben sie gesungen. Verbotene Lieder. Lieder, die ihnen Hoffnung und Mut gemacht haben. Gemeinsames Singen verbindet und hilft gegen Angst und Einsamkeit. Und wenn verschiedene Stimmen zusammenklingen und ein neues Ganzes bilden, dann ist das für den einzelnen Sänger und die einzelne Sängerin ein wunderbares Gefühl. So wird der Einzelne stark und mutig.

Natürlich können Menschen dieses Gottesgeschenk missbrauchen. Wir Menschen sind nicht immer gut. Daher ist auch das, was wir singen, nicht immer gut. Doch heute, an diesem Sonntag Kantate, da möchte ich Sie dazu ermutigen, Ihrer Stimme zu vertrauen. Denn ich glaube wirklich, dass Gott jedem und jeder von uns mit der Gesangsstimme ein eigenes Geschenk gemacht hat.

Auch den Menschen, die nicht mehr selber singen können oder die es sich nie getraut haben. Auch die hat Gott mit diesem Geschenk gemeint. Ich kann einem anderen Menschen zuhören, der singt, und mir so in die Seele sprechen lassen. Das geht auch am Radio! Oder ich kann die Augen schließen und mir den Gesang vorstellen. Vielleicht ist es die Stimme der Mutter aus der Kindheit, die dann zu hören ist. Vielleicht auch die eigene Stimme, die nicht mehr laut singen kann. Vielleicht die Stimme Gottes, die mir direkt ins Herz singt.

Wo man singt, da lass dich ruhig nieder. Und wenn Sie können und mögen: Singen Sie mit! Ich wünsche Ihnen einen gesegneten Sonntag!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=26386
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