SWR3 Gedanken

„Spring!“ Ich versuche ein aufmunterndes Lächeln, aber innerlich bin ich genauso aufgeregt wie meine Schülerin. Da steht sie, mitten auf einer großen Bühne und soll über ihren eigenen Schatten springen. Etwas vom Schwierigsten,was man einem Menschen abverlangen kann.  Sie soll mit ihren 17 Jahren bei einer Theateraufführung vor 100 Zuschauern ein Lied singen. Sie zweifelt an sich und ihrem Gesang, deshalb singt sie zwar das Lied, aber sie hat natürlich Angst Ich weiß, ich kann nicht mehr tun. Ich will sie nicht quälen, aber ich weiß, wie gut sie eigentlich sein kann. Und ich wünsche mir so sehr, dass sie das auch erkennt. Und dazu muss sie springen. Über ihren eigenen Schatten. Gemein. Aber dann – tut sie es. Sie springt. Singt sich mit ganzem Herzen die Seele aus dem Leib, als ob sie nie was anderes gemacht hätte. Unfassbar gut. Vor Rührung und Erleichterung steigen mir die Tränen in die Augen. Ich seh sie an und da steht vor mir eine völlig neue Persönlichkeit. Stark, groß, glücklich, stolz. Sie hat es geschafft. Sie ist einfach gesprungen. In diesem Moment bin ich unendlich dankbar, als Lehrerin immer wieder Momente miterleben zu dürfen, in denen Kinder und Jugendliche über ihren Schatten springen. Und mir fällt Eines auf, was mich nachdenklich macht: Kinder springen viel öfter und schneller über ihren Schatten als Jugendliche. Und Jugendliche häufiger als Erwachsene. Warum? Jeder Sprung über den eigenen Schatten macht ein bisschen stärker. Aber jeder Sprung verändert einen Menschen auch. Vielleicht liegt es in der Natur der Kinder, dass ihre Neugier auf eine neue Erfahrung stärker ist als die Angst vor Veränderung. Aber liegt es in der Natur von Erwachsenen, dass unsere Angst stärker ist als die Neugier? Sind wir schon so gefestigt in unserer Persönlichkeit, dass wir uns nicht ändern wollen? Fehlt uns jemand, der uns ein aufmunterndes Lächeln zuwirft und uns anfeuert? Wie Schön wäre es, wenn wir immer mal wieder den Mut hätten, uns selbst anzufeuern und unsere innere Stimme rufen zu lassen: „Spring!“.

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