SWR4 Abendgedanken RP

"Streitet euch nicht!", sagte meine Oma immer. Aber man muss doch manchmal streiten! Wenn man sich nicht einig ist - wie soll man es sonst austragen?!
Nun hatte meine Großmutter allerdings zwei Weltkriege und zweimal Flucht erlebt. Acht Jahre war sie alt, als in Sarajewo der österreichische Thronfolger erschossen wurde. Das war am 28. Juni 1914, also heute vor fast 100 Jahren. Dieser Mord löste eine Kettenreaktion aus, an deren Ende fünf Wochen später der Erste Weltkrieg begann. Genau fünf Jahre später unterschrieb in Versailles die deutsche Delegation den Friedensvertrag. Das war die Ursache für eine weitere Kettenreaktion. An ihrem Ende standen die nationalsozialistische Schreckensherrschaft und der Zweite Weltkrieg.
"Streitet euch nicht": Nein, so einfach geht es nicht. Weder in der großen Politik noch in der kleinen Familie. In Deutschland haben wir nach dem 2. Weltkrieg erst mühsam angefangen, streiten zu lernen, ohne dass das Ganze in Krieg ausartet. Wir führen heute keine Kriege mehr gegen unsere Nachbarn und schicken unsere Jugendlichen nicht mehr zu Tausenden auf die Schlachtfelder in den sicheren Tod.
Dennoch beteiligt sich die Bundeswehr am Krieg in Afghanistan. Und dort sterben Menschen. In ein paar Wochen werde ich ein junges Paar aus meiner Gemeinde trauen - und bete, dass der Bräutigam vorher heil wieder aus Afghanistan zurückkommt.
Ich wünschte, nirgends auf der Welt müssten junge Männer und Frauen ihr Leben aufs Spiel setzen - nur weil ein Konflikt nicht politisch gelöst werden kann. Aber ich weiß auch, dass das manchmal einfach nicht geht. Die Propheten Jesaja und Micha haben das vor fast 3000 Jahren auch schon gewusst. Und doch haben sie gesagt: "Es wird kein Volk wider das andere das Schwert erheben, und sie werden hinfort nicht mehr lernen, Krieg zu führen."
Der Weg dahin ist lang. Und er führt über richtigen Streit. Möge der Gott des Friedens uns beistehen und uns helfen, zu streiten und uns wieder zu versöhnen!

https://www.kirche-im-swr.de/?m=10923
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