Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

08OKT2024
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Ich glaube, ich hab Jesus getroffen. Am Kiosk im Speyerer Bahnhof. Dort stehe ich, will mein Wasser zahlen. Meine S-Bahn fährt gleich, ich hab’s eilig. Nur noch ein Mann vor mir, mit Beinschiene und Krücke. Als er dran ist, drängelt jemand rein – ein älterer Mann mit Hut – greift eine Zeitung vom Tresen.

„Hej, ich war dran“, empört sich der Mann vor mir, „dabei sind Sie doch alt, Sie haben Zeit!“ „Hab Sie nicht gesehen“, murmelt der Hutmann über die Schulter. „Ach was, ich komm Ihnen gleich hin“, ruft der mit Krücke und rückt bedrohlich vor. Der mit Hut wird nun auch laut: „Ich hab Sie nicht gesehen da hinten.“ Er dreht sich um. Er trägt eine Augenklappe und droht: „Ich bin alt, aber ich war Boxer. Sehen Sie das?“ Er hält dem Krückenmann seinen Bizeps vor die Nase.

Gerade will ich dazwischen, da sagt der junge Mann an der Kasse: „Moment, ich hätte ja sehen müssen, wer dran ist. Tut mir leid. Schauen sie sich an, sie haben es ja Beide nicht leicht.“ Die Beiden schauen sich nicht direkt an. Aber der Mann mit Hut lässt die Arme sinken, tippt kurz auf seine Augenklappe und geht. Der mit Krücke flucht nur noch leise vor sich hin. Und ist nun endlich dran.

Meine S-Bahn ist weg, aber ich bin erleichtert. Wie gut, wenn sich Menschen gesehen fühlen – selbst in ihrer Wut. „Schauen sie sich an, sie haben es Beide nicht leicht“, das hat er gesagt, der Verkäufer im Kiosk. Jetzt steh ich vor ihm. „Noch was, nur das Wasser?“, fragt er. „Nur das Wasser“, sage ich, „nein, noch etwas: Das war ganz groß von Ihnen, die Zwei zu beruhigen“. „Ach was“, meint er, und strahlt „das hätt doch jeder gekonnt, ich bin ja nicht Jesus“. Nun, ich bin mir da nicht so sicher.

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