Anstöße SWR1 RP / Morgengruß SWR4 RP

09AUG2024
AnhörenDownload
DruckenAutor*in

Ich habe mich in einem anderen Menschen getäuscht. Und in mir selbst.
Meine Frau und ich sitzen in unserer Lieblingspizzeria beim Mittagessen. Am Nebentisch essen vier gut gekleidete Männer. Offenbar freuen sie sich über einen beruflichen Erfolg, lachend und großspurig. Der Wortführer fällt mir besonders auf: Mit großen Gesten, lautstark und erfolgsverwöhnt redet er, mir ist er einfach unangenehm. - Der Verkäufer einer Obdachlosenzeitung geht von Tisch zu Tisch, bietet seine Zeitung an, bittet um eine Spende. Er kommt auch an den Tisch der vier Männer. Na, denke ich, die vier werden ihm was erzählen. Doch der großspurige Erfolgstyp wechselt den Ton und sagt: Eine Zeitung möchte ich Ihnen nicht abkaufen. Aber ich lade Sie zu einer Pizza und einem Getränk ein, nehmen Sie doch bitte Platz. Und der Verkäufer setzt sich an einen Tisch und bestellt sein Essen.
Diese Begebenheit erinnert mich an eine Geschichte, die Jesus erzählt: Zwei Männer gehen zum Beten in den Tempel, ein Zöllner und ein Pharisäer. Der Pharisäer ist ein respektierter, frommer Gelehrter. Der Zöllner ist ein verachteter Helfer der verhassten Römer, den die Leute meiden. Der Pharisäer fängt gleich an zu beten und legt Gott dar, wie er in jeder Hinsicht fromm und gottgefällig lebt. Und er dankt Gott, dass er nicht ist wie die anderen, wie zum Beispiel dieser Zöllner da hinten. Der bleibt nämlich ganz hinten stehen und sagte nur: Gott sei mir Sünder gnädig. Und Jesus lobt den Zöllner, der um Vergebung bittet, und nicht den Pharisäer, der glaubt – selbstsicher und arrogant wie er ist –, keine Vergebung zu brauchen.

Wann immer ich diese Geschichte lese, möchte ich mich gerne in dem Zöllner wiedererkennen, möchte meiner Fehler bewusst sein und um Vergebung bitten. Doch bei der Begebenheit in der Pizzeria finde ich mich unversehens in der Rolle des Pharisäers wieder. Da bin ich selbst in die Falle getappt und habe im Stillen gedacht: Na, so einer bin ich aber nicht, der sich da unangenehm großtut und herumprahlt. Doch die Großzügigkeit des anderen hat mich beschämt. Es ist nämlich nicht immer so klar, wer hier eigentlich der Pharisäer ist.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40441
weiterlesen...