Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

10AUG2024
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Ich bin auf einer Fortbildung. Gerade trudeln alle ein. Katrin, die wie ich eine Teilnehmerin ist, kommt auf mich zu, um mich zu begrüßen und sagt: „Hallo, du Schöne“!
Du Schöne. Ich bin überrascht, denn so werde ich selten begrüßt. Doch da ich Katrin schon eine Weile kenne, ist mir schnell klar: Bei ihr ist das keine Floskel. Katrin hat einen Blick für Schönes. Sie sucht es. Und findet es immer wieder. Heute bei mir.

Dass es sich lohnt, aufmerksam nach dem Schönen Ausschau zu halten, davon ist auch die französische Mystikerin Simone Weil überzeugt. Für sie ist schön vor allem „das, was man“ – wie sie sagt – „nicht verändern will“. Das, was einfach da ist, ich mit meinen Sinnen wahrnehmen und nicht künstlich machen kann. Weder durch eine Schönheits-OP, noch durch einen Filter, den ich auf Fotos lege, um sie zu bearbeiten. Diese reine, pure Schönheit kann überall sein. Wenn ich in einer Sommernacht eine Sternschnuppe am Himmel entdecke. Wenn ich das freudige Glucksen meiner kleinen Nichte höre. Oder im Gesicht der alten Frau, die ich vor Kurzem besucht habe. Ein Gesicht, das voller Lebensspuren ist und bei dem hinter jeder Falte eine Geschichte steckt.

Simone Weil hat das Schöne mit Gott verknüpft. Sie schreibt: „In allem, was das reine und echte Gefühl des Schönen in uns weckt, ist Gott wirklich gegenwärtig.“
Ich verstehe das so, dass alles Schöne meinen Sinn für das Unendliche wecken kann. Und dass ich, wenn ich Schönes entdecke, sensibel dafür werde, wie viel Göttliches in allen Menschen und in der ganzen Schöpfung steckt.

Leider wird das Schöne oft zugedeckt und überlagert. Wenn die Natur ausgebeutet wird. Wenn Menschen Krisen aushalten müssen. Oder auch wenn sie neidisch aufeinander sind oder sich sogar bekriegen und einander Gewalt antun.

Doch vielleicht brauchen Menschen gerade dann das Schöne. Etwas, das sie hoffen lässt. Etwas, worüber sie sich freuen können. Und wenn es auch nur für einen Moment ist. Ich denke an eine junge Geigerin, die mit einem Streichquartett im Gazastreifen Musik macht. Unterirdisch, wegen der Raketen. Oder an Friseure, die Obdachlosen die Haare schneiden. Sie sehen das Schöne der Menschen und legen es frei.

Menschen brauchen Schönes. Davon bin ich überzeugt. Und deshalb wünsche ich seit einiger Zeit lieben Menschen auf Geburtstagskarten nicht nur viel Gutes für das neue Lebensjahr, sondern auch viel Schönes.

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40433
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