SWR Kultur Wort zum Tag

13JUL2024
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Der reformierte Pfarrer Joachim Neander hat sich zu Lebzeiten wohl nicht träumen lassen, dass das schluchtartige Tal des Flüsschens Düssel einmal seinen Namen tragen würde. Er hat dort in den 70er Jahren des 17. Jahrhunderts sonntags Gottesdienste im Grünen gefeiert und unter der Woche ausgedehnte Spaziergänge gemacht. Das Neandertal liegt heute in Nordrhein-Westfalen, etwa zehn Kilometer östlich von Düsseldorf. Berühmt geworden ist es aber nicht für den Dichter des Liedes „Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren“, sondern für einen urzeitlichen Bewohner, dessen fossile Überreste man dort im Jahr 1856 gefunden hat: den Neandertaler. Diesem urmenschlichen Verwandten haftet kein besonders gutes Image an. Er gilt als primitiv und grobschlächtig. Wenig Hirn, viele Muckis.

Dieses Urteil muss jetzt jedoch gründlich revidiert werden. In einer spanischen Höhle haben Forscher nämlich Knöchelchen aus dem Innenohr eines etwa sechsjährigen Kindes gefunden. Und die weisen Merkmale der Genmutation Trisomie 21 auf. Ein Neandertaler mit Down-Syndrom. Die eigentliche Sensation besteht aber darin: Dieses behinderte Kind konnte nur überleben, wenn es liebevoll versorgt wurde. Denn vor 55 000 Jahren herrschten an der spanischen Mittelmeerküste eisige Temperaturen und widrige Bedingungen für den Schutz behinderter Artgenossen.

Dass der kleine Junge trotzdem sechs Jahre alt wurde, weist darauf hin, dass er in einer fürsorglichen Gemeinschaft lebte. In dem betreffenden Artikel steht dazu der Satz: „Nächstenliebe gab es also schon einige Zehntausend Jahre vor Erfindung des Christentums.“ Ja, natürlich, denke ich. Denn Nächstenliebe ist eine im wahrsten Sinne des Wortes urmenschliche Eigenschaft. Nicht Jesus hat sie erfunden. Auch der jüdische Glaube weiß, dass die vorbehaltlose Zuwendung zu den Mitmenschen zum Fundament einer starken Gemeinschaft gehört. Nicht das alleinige Recht des Stärkeren hilft zum Überleben, sondern die Frage, wie mit den Schwächsten umgegangen wird. Um dieses Fundament zu stärken, hat Jesus der Nächstenliebe zwei Partnerinnen an die Seite gestellt, die Gottesliebe und die Selbstliebe. Jede einzelne ist schon stark für sich, aber wenn sie zusammen an einem Strang ziehen, sind sie unschlagbar.    

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