SWR Kultur Wort zum Tag

12JUL2024
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Eine Konferenz in Berlin. Neben dem Tagungsprogramm hab ich mir viel vorgenommen, will jede freie Minute optimal ausnutzen. Wenn man schon mal in der Bundeshauptstadt ist! Aber die Schlange vor dem Museum ist ewig lang, und ehrlich gesagt, bin ich doch auch ziemlich müde. Also gebe ich mein ehrgeiziges Kulturprogramm auf und lasse mich einfach so durch die Straßen treiben. Und finde mich plötzlich im Grünen wieder.

Ich bin überrascht: Da wächst ein Roggenfeld mitten in der Stadt. Ein Straßenschild hilft mir: „Bernauer Straße.“ Ja, hier stand früher die Mauer, hier verlief der Todesstreifen, der mit Gewalt den Lebenszyklus einer Millionenstadt abwürgen sollte. Die aufsteigenden Bilder schnüren mir die Kehle zu. Mitten im sommerlichen Roggenfeld steht die Kapelle der Versöhnung. Ein schlichter Stampflehmbau aus Holz und Lehm, zu zwei Dritteln aus Bruchstücken der Vorgängerkirche gebaut, die 1985 gesprengt worden ist.

Spontan folge ich dem Impuls, die raue Wand zu berühren. Die Verletzungen zu spüren, die diesem Material eingeschrieben sind. Und ihnen gleichzeitig die Hand aufzulegen wie eine alte Heilerin. Später erzählt mir der Pfarrer, der hier arbeitet, dass viele Besucherinnen das tun. Berühren, um berührt zu werden. Anfassen, was sonst nur schwer zu begreifen ist. Jeden Mittag wird hier in vielen Sprachen das Vaterunser gebetet. Seit zwei Jahren auch auf Russisch und Ukrainisch. Jeden Tag.

Ich setze mich auf einen Stuhl und lasse den kargen Raum auf mich wirken. Die Kantorin erzählt stolz von der kleinen Orgel auf der Empore: Vier Register rufen mit je landestypischen Klangfarben die ehemaligen Besatzungsmächte in Erinnerung: Frankreich, Großbritannien, die USA und Russland. Was für ein kraftvoller Ort! Aus dem Roggen draußen wird tatsächlich Brot gebacken. Und Saatgut in 13 Länder verschickt, die einmal hinter dem Eisernen Vorhang lagen. Hinter der Kapelle liegt immer noch ein Stück NiemandsLand. Aber es ist kein Todesstreifen mehr, sondern ein Garten mitten in der Stadt. Er gehört niemandem, ist für alle da. Wer will, kann hier Gemüse anbauen. Oder Rosen züchten. Die verletzte Seele baumeln lassen. Und spüren, wie ein großes Wort vorsichtig Wirklichkeit wird: So ist Versöhnung. 

https://www.kirche-im-swr.de/?m=40280
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