Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

12JUL2024
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"Hallo, das darf doch jetzt nicht wahr sein. Da kommt mein Bruder nach Hause und mein Vater hat nichts Besseres zu tun, als ein Fest zu feiern. Weil er ihn heil zurückbekommen hat. Dabei hat der doch nur Mist gebaut.“

Vielleicht ahnen Sie es schon: Ich erzähle Ihnen gerade eine Geschichte aus der Bibel. Sie kennen sie unter dem Namen „Der verlorene Sohn“ oder auch „der barmherzige Vater“. Ich wähle heute nicht den Blick vom Vater oder dem verlorenen Sohn, sondern vom zweiten, älteren Sohn. Vermutlich ungewöhnlich, aber ich finde sehr aufschlussreich.

Während der jüngere Sohn sich das Erbteil auszahlen lässt, fortzieht und alles verprasst, um dann wieder zum Vater zurückzukommen und darum zu bitten, eine Anstellung zu bekommen, bleibt der ältere Sohn. Als der verlorene Sohn wieder zurückkommt, feiert der Vater ein großes Fest mit ihm, weil er ihn gesund wieder in die Arme schließt.

Der ältere Sohn hingegen will nicht mitfeiern. Er hat die ganze Zeit für den Vater gearbeitet, also alles richtig gemacht. So zumindest die landläufige Deutung.

Wenn ich die Perspektive zum älteren Sohn wechsele, stelle ich ziemlich schnell fest, dass der Vater zwar sagt: „Alles was mein ist, ist auch dein.“ Auch der ältere Sohn kann sich das Geld nehmen, um mit seinen Freunden ein Fest zu feiern. Vielleicht wünscht er sich aber, dass der Vater ihm mal etwas schenkt und ihm damit Achtsamkeit entgegenbringt. Ich kann mir auch vorstellen, dass er gerne mal was ganz anderes machen würde, so wie sein jüngerer Bruder. Aber er hatte nie den Mut dazu.

Manchmal ist es gut, die Perspektive zu wechseln. Auf relativ einfache Weise kann ich da einige Dinge neu erleben und erfahren.

Besonders bei Konflikten ist das ein Mittel, was gut zum Ziel führen kann, nämlich zu einem Kompromiss zu kommen, mit dem beide Parteien leben können. Mit einem Perspektivwechsel kann ich mich aus der Sicht des anderen in den Sachverhalt hineinversetzen und vielleicht spüren, dass das, was dem anderen wichtig ist, gar nicht so unannehmbar ist. Und ihn so besser verstehen.

So kann ich bei der Geschichte vom verlorenen Sohn feststellen, dass dieser ältere Sohn, der immer beim Vater bleibt, doch auch irgendwie verloren ist, nur auf eine ganz andere Art. Und auch er braucht die Hilfe und das gute Wort des Vaters.

Jetzt verstehe ich ihn noch viel besser. Und ich hoffe, dass der Vater auch ihn in die Arme nimmt und mit ihm feiert.

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