Anstöße SWR1 BW / Morgengedanken SWR4 BW

01JUL2024
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Verfallene Häuser und Scheunen, ein Parkhausgerippe im Rohbau, vor Jahren abgestellte und sich selbst überlassene Autos, Zweiräder und Baumaschinen, alte Fabriken und stillgelegte Kraftwerke. In südlichen Nachbarländern sieht man das öfter mal am Straßenrand. Bei uns in Baden-Württemberg eher selten. Im „Musterländle“ mag man es lieber aufgeräumt.

Aber es gibt sie auch hier. Sogenannte „lost places“ – verlorene Orte, von Menschen aufgegebene, verlassene Gebäude, Anlagen oder auch Gegenstände. Niemand hat sich die Mühe gemacht, sie wegzuräumen oder abzutragen. Sie verfallen heimlich, still und leise vor sich hin.

Der in Esslingen geborene Fotograf Benjamin Seyfang liebt solche Orte, sucht sie immer wieder auf und hält seine Eindrücke in Bildern fest. Auch ich kann mich ihrem Charme nicht entziehen. Was ist so faszinierend an einem vom Moos fast zugewachsenen Fahrrad? Einem leeren Schwimmbecken oder – besonders berührend – einem Raum mit eingestürzter Decke, an dem nur noch ein schlichtes Holzkreuz an der Wand daran erinnert, dass hier einmal die Kapelle eines Seniorenheims gewesen ist?

Eins verstehe ich gleich: Es herrscht eine wunderbare Ruhe an diesen „verlorenen Orten“. Man sieht noch die Spuren ehemaligen Lebens, aber jetzt hat kein Mensch mehr seine Finger im Spiel. Vieles hat sich die Vegetation inzwischen zurückerobert. Mit Spinnennetzen, mit Efeu, Gestrüpp und Moos. Auch dieser Anblick hat etwas Tröstliches. Denn ich sehe eine Kraft am Werk, die uns Menschen mit unseren genialen Ideen, aber auch mit unserem zerstörerischen Eifer überdauern wird. Langsam und barmherzig ist sie am Werk. Irgendwie friedlich. Tausend Jahre sind ihr wie ein Tag. Nichts eilt mehr. Alles wird überwachsen, überwuchert, umarmt, umschlungen. Und dann gibt es da noch diesen liebevollen Blick, der das alles eingefangen hat und es nun auf mich wirken lässt.

„Ich bin gekommen, um zu suchen, was verloren ist.“ Das könnte als Motto im Vorwort dieser Bücher stehen. Ein Jesuswort. Ich weiß, er hat damit Menschen gemeint. Solche, die niemand eines Blickes gewürdigt hat. An denen andere vorbeigegangen sind, ohne sie zu bemerken. Lord oft the lost, der Herr der Verlorenen. Die Fotos all der lost places lehren mich einen neuen Blick auf Räume und auf Menschen.

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